Lisa Hänsch von WITTENSTEIN SE im Gespräch
Die Mit-Gründerin und Mitarbeiterin der Organisationsentwicklung bei dem Antriebstechnik-Spezialisten WITTENSTEIN SE spricht über Widerstand im Veränderungsprozess durch Transparenz, warum kultureller Wandel kein Projekt ist und die Konsequenzen, wenn man den Satz 'die Führungskraft muss dahinter stehen' ernst nimmt.
Zur Person
Lisa Hänsch, Corporate Organizational Development, ist Mit-Gründerin und Mitarbeiterin der Funktion Organisationsentwicklung bei dem Antriebstechnik-Spezialisten WITTENSTEIN SE, die Transformationsprojekte für weltweit rund 2.900 Mitarbeiter verantwortet. Ihre Aufgabe als Organisationsentwicklerin bei einem der 450 ‘heimlichen Weltmarktführer’ beschreibt sie als „Weg, der manchmal lang und hart und steinig ist – aber es lohnt sich, denn nichts kostet uns mehr als ‘das haben wir schon immer so gemacht!’“
Was wird in den nächsten Jahren die größte Herausforderung aus Organisationsentwicklungsperspektive für WITTENSTEIN sein?
LISA HÄNSCH Die größte Herausforderung liegt darin, dass Wandel und Veränderung permanente Begleiter bis ins Tagesgeschäft hinein geworden sind, die Organisation und ihre Mitglieder „Change“ aber immer noch als Abweichung von der Norm ansehen.
Als OE fragen wir uns: Wie schlage ich die Brücke zwischen einerseits „Oh Gott, da kommt schon wieder eine Veränderung“, die man fokussiert im Rahmen eines abgeschlossenen Projektes bearbeitet, und andererseits Veränderung, die als Selbstverständlichkeit im Tagesgeschäft mitläuft. Ist Veränderung etwas Exzeptionelles, das expliziten Fokus braucht, oder gehört Veränderung einfach dazu? Und wie kann man das sinnvoll in die Organisation bringen und in der Organisation spielen? Ich glaube, das ist der Kern jedes Themas, das uns in Zukunft begegnen wird.
„Frühe Transparenz hat zu extrem viel Widerstand geführt“
Wie gestalten Sie Veränderung heute bei WITTENSTEIN?
LISA HÄNSCH Bisher werden Veränderungen noch als Projekte gehandhabt, damit sie diesen expliziten Fokus bekommen. Und genau darin liegt auch die Herausforderung für die Mitglieder der Organisation, denn die meisten sind ja nicht nur mit einer, sondern mit etlichen Veränderungen konfrontiert – parallel zum Tagesgeschäft. Und wie verbinden wir die verschiedenen Projekte sinnvoll? Ich glaube, darin liegt noch viel Verbesserungspotenzial.
Was hat sich heute schon verändert?
LISA HÄNSCH Wir sind deutlich transparenter in Bezug auf die Veränderungen und zwar ab einem sehr frühen Stadium. Aber genau das ist auch die riesige Herausforderung für die Mitarbeitenden.
Wir versuchen, so früh wie möglich zu beteiligen und die Schritte transparent zu machen: Da passiert gerade etwas. Wir sind jetzt in dem und dem Stadium. Die und die Menschen beschäftigen sich damit. Ihr bekommt, sobald man die nächste Stufe erreicht hat, wieder eine Information darüber.
Wir haben dabei aber festgestellt, dass es nicht für alle einfach ist, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Wir müssen also verhindern, dass die neue Transparenz die Organisation lahmlegt. Wir fragen uns daher immer öfter: Halten das unsere Mitarbeitenden auch aus? Oder ist es am Ende das kleinere Übel, lange im stillen Kämmerlein zu arbeiten und dann kurzzeitig eine große Veränderung heraufzubeschwören? Das bringt Nachteile mit sich, die wir bisher noch so hoch werten, dass wir die Unsicherheit in Kauf nehmen.
„Den Spagat, den wir niemals auflösen werden, entsteht zwischen 'wir wollen beteiligen' und dem Wunsch der Menschen, wenn sie ganz ehrlich sind, nach so wenig Unsicherheit wie möglich“
Was sind denn konkrete Ereignisse gewesen, wo die frühe Einbindung der Mitarbeitenden nicht so erfolgreich war wie erhofft?
LISA HÄNSCH Wir haben ein Projekt zum Thema Organisationsstruktur begonnen und bereits in der Grobkonzept-Phase alle Mitarbeitenden informiert: Das sind die Kernbereiche, in denen Veränderung stattfinden wird. Aber wie das konkret aussehen wird und welche Rollen betroffen sind, das wissen wir noch nicht. Das wird Teil des Feinkonzepts in der nächsten Phase sein.
Wir haben früh informiert und ein hohes Maß an Unsicherheit in Kauf genommen, da wir für die Feinkonzeptphase eine stärkere Beteiligung einzelner Fachexpertisen brauchten, sodass wir gesagt haben: „Wir brauchen, um inhaltlich sinnvoll weiterarbeiten zu können, jetzt in diesem frühen Stadium genau diese Transparenz.“
Diese frühe Transparenz hat aber zu extrem viel Widerstand geführt. Die Mitarbeitenden haben dieses Konzept-Niveau als Blabla wahrgenommen. Es hatte nicht die Substanz, die es gebraucht hätte, um Einverständnis zu bekommen im Sinne von „Ja, stimmt, ich sehe einzelne Aspekte, die eine deutliche Weiterentwicklung zeigen, okay, lassen wir uns mal drauf ein“.
Jetzt sind wir gerade am Ende der Feinkonzeptphase, kurz vor der Transformation. Rückblickend weiß ich nicht, ob wir das nochmal so machen würden. Wir haben es gebraucht, um die Fachexpertisen einbinden zu können. Und ich glaube, wir haben damit auch der Organisation Zeit gegeben, sich damit zu befassen, dass sich etwas ändert, dass wir das ernst meinen und dass sie auch dagegen sein können. Und dass wir uns davon nicht gleich umwehen lassen.
„Das verbindende Element zwischen all diesen Veränderungen, Strategiethemen, Strukturthemen, prozessualen Themen ist immer unsere Unternehmenskultur“
Ist das der zweite große Spagat der OE – zwischen dem Wunsch nach Entlastung durch ein fertiges Konzept und dem Wunsch nach Beteiligung seitens der Mitarbeiter?
LISA HÄNSCH Ja, absolut. Ich glaube, das ist der Spagat, den wir auch niemals auflösen werden zwischen „wir wollen beteiligen“ und die Menschen wollen aber eigentlich, wenn sie ganz ehrlich sind, so wenig Unsicherheit wie möglich. Hinsichtlich der Eingangsfrage nach der größten Herausforderung für die Organisation würde ich jetzt sogar korrigieren: Der Umgang mit Unsicherheit ist die größte Herausforderung. Der geht damit einher, dass wir uns ständig verändern, aber er geht eben auch damit einher zu sagen, es gibt nicht mehr den einen, der genau das Ziel vorgibt, und alle haben dann zu folgen. So wollen wir ja auch nicht mehr geführt werden. Aber dass wir so nicht mehr geführt werden wollen, hat eben auch zur Konsequenz, dass wir Unsicherheit aushalten müssen und die Chance darin sehen und es nicht einfach nur unbequem und lästig ist.
„Jeder hat die Verantwortung, zur Unternehmenskultur beizutragen. Und genau deshalb ist es kein Projekt. Es gibt keinen Projektleiter. Es gibt keinen definierten Anfang, kein definiertes Ende“
Welches Thema beschäftigt Sie konkret?
LISA HÄNSCH Das Thema kultureller Wandel. Das ist ein Thema, an dem wir arbeiten und ganz bewusst sagen: Kultureller Wandel ist kein Projekt!
Es gehört zur DNA unserer Organisation, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, dass es uns als familiengeführtes Unternehmen unglaublich wichtig ist, ein Wertegerüst zu haben, das die Mitarbeitenden verinnerlicht haben und das unsere Zusammenarbeit prägt.
In der Vergangenheit gab es immer einen Eigentümer, der an der Unternehmensspitze stand und genau diese Werte vorgelebt und als One-Man-Show verkörpert hat. Durch einen Generationenwechsel innerhalb der Eigentümerfamilie sind wir jetzt aber an dem Punkt, dass wir durch einen Manager geführt werden, der nicht zum Familienkreis gehört, da sich die Familie in die Rolle der Aufsichtsratsmitglieder zurückgezogen hat. Das operative Geschäft ist zum ersten Mal in der Geschichte von WITTENSTEIN explizit getrennt von der Familienstruktur. Parallel dazu haben wir eine neue Strategie entwickelt und eine große strukturelle Veränderung angestoßen. Beides hat uns dazu geführt zu sagen: „Wir müssen uns explizit mit unserer Unternehmenskultur beschäftigen.“ Denn das ist das verbindende Element zwischen all diesen Veränderungen, Strategiethemen, Strukturthemen, prozessualen Themen. Der Kern ist immer unsere Unternehmenskultur.
Aber ist das etwas, was einige Wenige für ein oder zwei Jahr bearbeiten? Diese Frage hat uns früh zu dem Punkt geführt klarzustellen, jeder hat die Verantwortung, zur Unternehmenskultur beizutragen. Und genau deshalb ist es kein Projekt. Es gibt keinen Projektleiter. Es gibt keinen definierten Anfang, kein definiertes Ende. Natürlich haben wir eine Planung und eine Grundstruktur, auch hier ist die Organisationsentwicklung ein Begleiter. Wir unterstützen, beraten, setzen Impulse, aber die Verantwortung haben ganz klar die Führungskräfte und über die Kulturarbeit der Führungskräfte in ihren Bereichen auch ganz klar die Mitarbeitenden.
„Alle haben das Thema 'kultureller Wandel' auf sehr unterschiedliche Art bearbeitet und umgesetzt. Das ist aber auch die Konsequenz, wenn man den Satz ‘die Führungskraft muss dahinterstehen und die Werte repräsentieren’ ernst nimmt“
Wie setzen Sie diese Impulse? Wie werden die bearbeitet?
LISA HÄNSCH In vielen iterativen Prozessschleifen. Am Anfang stand, dass sich Vorstand und oberste Führungsebene explizit mit dem Thema beschäftigt haben. Immer wieder haben wir in Workshop-Formaten darüber gesprochen, was wir überhaupt wahrnehmen, was für uns Kultur ist. Wir haben das Werte-Modell nach Graves als methodische Basis genommen, um stärker zu verstehen, wie die Situation heute ist und wie unser Zukunftsbild sein soll. Nach über einem Jahr nur auf Ebene Vorstand und oberste Führung, als alle bestätigt haben: „Okay, jetzt haben wir ein gemeinsames Bild, und jeder kann es in die eigenen Organisationseinheiten tragen“, sind wird auf die nächste Ebene gegangen. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keine Kommunikation, jede Führungskraft vertrat die Notwendigkeit des kulturellen Wandels persönlich ihrem Bereich gegenüber.
Ab dann hat sich das Vorgehen in unterschiedlichsten Facetten ausgebreitet. Alle haben sehr stark für sich selbst gearbeitet und es auf sehr unterschiedliche Art umgesetzt. Das ist aber auch die Konsequenz, wenn man den Satz ‘die Führungskraft muss dahinterstehen und die Werte repräsentieren’ ernst nimmt.
Weil es eben nicht der Vorstand allein ist, sondern die Führungskräfte dahinterstehen und das tragen müssen, müssen wir als OE akzeptieren, dass die Geschwindigkeiten ganz unterschiedlich gewesen sind.
Mir ist wichtig, dass wir über die Art, wie wir kulturellen Wandel bearbeiten, schon unsere Kultur verändern. Weil wir die Führungskräfte eben vor Herausforderungen gestellt haben, die es vorher nicht gab. Sonst gibt es für alles einen zentralen Prozess und jeder weiß, welche Schritte abzuarbeiten sind. Und jetzt war es mal das komplette Gegenteil. Daran sind wir gewachsen, auch wenn es sich zwischendurch auch mal sehr mühsam und kräftezehrend anfühlt.
Heute sind wir an einem Punkt, an dem es in den Bereichen gut läuft, wir aber ein noch viel stärker verbindendes Element auf Mitarbeiterebene brauchen. Deshalb haben wir vor ungefähr einem Jahr begonnen, insbesondere im Headquarter, bereichsübergreifende Ganztagesveranstaltungen zu initiieren. 2023 waren das vier interdisziplinäre Veranstaltungen mit jeweils etwa 100 Mitarbeitenden und Vorstand. Das ist ein Element gewesen, das unglaublich wichtig war: die Arbeit der einzelnen Bereiche nach einem gewissen Zeitpunkt mit einem bereichsübergreifenden Blick zu ergänzen, weil der die Zusammenarbeit und den Erfolg des Unternehmens langfristig ausmachen wird.
„Mir ist wichtig, dass wir über die Art, wie wir kulturellen Wandel bearbeiten, schon unsere Kultur verändern“
Wenn Geld keine Rolle spielen würde, was würden Sie dann gerne ausprobieren und realisieren?
LISA HÄNSCH Wenn Geld keine Rolle spielen würde, würde ich gerne alle Mitarbeitenden weltweit an einen Ort zusammenkommen lassen und dort die Dynamik unserer Gesamtorganisation erlebbar machen. Zum Beispiel eine Woche alle an einem Ort und dort die Bandbreite an Perspektiven, die Diversität erlebbar machen und diese Energie, die da definitiv entstehen würde, mitnehmen, um im Tagesgeschäft wieder weiterzuarbeiten. Das wäre ein großartiges Experiment!