Digitalisierung und Transformation erfolgreich gestalten

Die Produktentwicklung der Zukunft in der fertigenden Industrie

von Dirk Otten am 30.03.23 17:03
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Lessons learned in Unternehmen der fertigenden Industrie als Inspiration und Ideenpool für Veränderung in der eigenen Organisation

Als Baustein für die eigene Reorganisation will ein führendes Unternehmen der Intralogistik von den Erfahrungen lernen, die andere Firmen in angrenzenden Branchen bei der Neuaufstellung ihrer Produktentwicklung gemacht haben. Welche Wege sind andere Unternehmen gegangen? Welche Rolle spielen agile Konzepte dabei?

Dieser Beitrag stellt die Erfahrungen vor, die Unternehmen der fertigenden Industrie in ihrer eigenen Reorganisation hin zu einer agilen, iterativ-inkrementellen Produktentwicklung gesammelt haben.

Sie können als „Good Practice“ allen Unternehmen, die sich in oder vor einem Transformationsprozess befinden, als Inspiration, Ideenpool und Leitplanke für die eigene Veränderung dienen.

Für die Kurzstudie führte DIGITALTRANSFER qualitative Interviews mit CTOs, Head ofs für Digital Products, Services und Portfolio Extension sowie Leitern für digitale Transformation und Organisationsentwicklung.

Die Sondierung der Interviewpartner für insgesamt zehn Fallstudien aus unterschiedlichen Branchen wie Maschinenbau, Bauhilfsstoffhersteller, Polymerverarbeitung, Büroelektronik und Sicherheitstechnik bringt die erste interessante Erkenntnis: Alle angesprochenen Unternehmen haben in der jüngeren Vergangenheit ihren Produktentstehungsprozess hinterfragt. Und bei den wenigsten ist dieser Prozess abgeschlossen.

 

Der Anlass für Veränderung

In allen befragten Unternehmen führen die tradierten und vormals bewährten Arbeitsweisen nicht mehr zu erfolgreichen Produktentwicklungen: „Das Dreieck Kosten-Zeit-Erfolg war über alle Projekte tiefrot“, so fasst ein Ansprechpartner den Ausgangspunkt zusammen. Andere bestätigen: „Der Prozess war herausfordernd, es herrschten Chaos und viel Hektik. Wir brauchten neue Ansätze in der Produktentwicklung, um unser Ziel ‚beste Qualität zu vernünftigen Preisen‘ zu erreichen.“

Alle Organisationen sehen sich mit einer Komplexität konfrontiert, die im bestehenden System nicht mehr zu bewältigen ist: „Grund für die Veränderung war die pure Not: Die hohe Komplexität war mit unseren herkömmlichen Methoden nicht zu machen. Es herrschten eine dysfunktionale Hierarchie und lautes Schreien.“

Vor allem die Integration von Software- und Hardware-Entwicklung erfordert neue Herange­hensweisen: „Unsere Software-Entwicklung folgte agilen Prinzipien, die Hardware-Entwicklung lief nach Wasserfall, entsprechend war die Integration eine Katastrophe. Das mussten wir in den Griff kriegen.“

Die mangelhaften Ergebnisse spiegeln sich im Stimmungsbild: „Wir waren frustriert und demotiviert.“

 

Die Auswahl des agilen Frameworks

Ist Agilität die Lösung für all diese Probleme? Und welches agile Framework ist das führende? Die seitens des Auftraggebers erhoffte klare Antwort auf diese Frage fällt eindeutig uneindeutig aus: Alle Unternehmen haben agile Ansätze und Methoden integriert und skaliert. Bei den allerwenigsten Unternehmen wurden agile Ansätze jedoch nach dem Lehrbuch eingeführt: 

  • „Wir arbeiten mit einer Mixtur aus Wasserfall und Scrum.“
  • „Wir benutzen eine pragmatische Mischung aus Wasserfall, Matrix und Agile.“
  • „Wir arbeiten mit SAFe mit mehreren Scrum-Teams – aber noch nicht in allen Entwicklungsbereichen.“

Jedes Unternehmen hat in einem individuellen, evolutionären Prozess agile Elemente ausgewählt, eingeführt und dabei inhaltlich und sprachlich an die lokalen Gegebenheiten angepasst und permanent nachgesteuert: „Es gab viel Leiden, und wir haben zwischendurch immer wieder justiert.“

 

Die Faktoren Zeit, Geld und Leidenschaft

Die intensive Suche nach der individuell besten Lösung zeigt sich als zentraler Bestandteil auf dem Weg zum erfolgreich erneuerten Produktentwicklungsprozess: „Wir haben 1,5 Jahre gebraucht, um mit Stabsstellen und Entwicklungsleitern den PE-Prozess neu aufzusetzen.“ 
Nicht nur die konzeptionelle Arbeit verlangt Ausdauer, auch die Umsetzung fordert von allen Beteiligten Durchhaltevermögen: „Wir haben mit der Umsetzung vor 3,5 Jahren begonnen; man muss sehr strukturiert und diszipliniert sein. Es braucht Durchhaltevermögen und die Bereitschaft sich einzulassen.“

 

Umsetzung: Start small, learn fast

Keines der befragten Unternehmen hat seinen Produktentwicklungsprozess ad hoc umgestellt. Stattdessen kann man erfahren, wie Neues in kontinuierlichen Schritten organisch umgesetzt wurde. 
Ein klarer Unterschied besteht hier mit Blick auf die Rolle der Software im Unternehmen.

  • In Organisationen, die bereits stark Software getrieben sind und in denen IT-Entwickler zahlenmäßig den größeren Anteil ausmachen (und nicht in externen Tochtergesellschaften angesiedelt sind), ist Scrum als führendes Framework explizit die Basis der Neuorganisation.
  • In Organisationen, die Hardware geprägt sind, werden agile Prinzipien ‚durch die Hintertür‘ eingeführt und die Methoden auch begrifflich an die Mechanik-Welt angepasst. 

Ein wichtiges Element ist das Prinzip Freiwilligkeit in der Einführungsphase: Einige Organisationen entscheiden sich dafür, dass Teams sich in der Übergangsphase für Pilot-Projekte bewerben können. Ein Ansprechpartner fasst zusammen: „Immer klein anfangen! Ein großer Shift hin zu ‚Agile‘ kann nicht funktionieren, da es einen großen Shift im Mindset braucht!“

 

Ein Stage-Gate-Prozess als Metaprozess

Bedeutet Agilisierung der Produktentwicklung damit die Auflösung des einen, alles umfassenden Metaprozesses? Nein, im Gegenteil: Alle Befragten sind sich einig, dass ein übergeordneter Produktentwicklungsprozess zwingend nötig ist, um Risiken zu kontrollieren und Ressourcen zu kanalisieren: „Der zentrale Ansatz war, einen sauberen Prozess aufzusetzen, der überall gilt – einfach und klar wie ein Kochbuch.“ Auch die Ansprechpartner, deren Organisationen mit Scrum und SAFe arbeiten, betonen: „Neben Scrum ist der Stage-Gate-Prozess, der die Investitionen absichert, essenziell für Fokus und Priorisierung.“

 

Simultanes Vorgehen in crossfunktionalen Teams

Als essenziell für kürzere Produktentwicklungszeiten sehen alle Interviewpartner die Abkehr vom Wasserfallprinzip zu Gunsten eines gemeinsamen Vorgehens in gemischten Teams, in denen frühzeitig Vertreter aus den beteiligten Funktionen zusammenkommen: „Wir arbeiten massiv in interdisziplinären Teams, das geht bis hin zum Packen.“ Und: „Der Produktentstehungsprozess ist der Metaprozess, der crossfunktional aus allen Hauptprozessen Verantwortliche zusammenbringt und sie simultan vorgehen lässt.“

Als einen zentralen Faktor für kürzere Entwicklungszeiten sehen viele Ansprechpartner neben der zeitlichen Verschränkung vormals sequenzieller Arbeitsschritte auch den veränderten Fokus, weg von lokaler Optimierung innerhalb einer Funktion hin zu einer Orientierung am Gesamtprozess: „Keiner bekommt mehr ein Lob, wenn er auf Kosten der anderen Gewerke Optimierung betreibt; im Gegenteil gibt es Tadel, dass das Ganze nicht im Zusammenhang gesehen wurde. Denn wenn es um Qualität und Zeit geht, muss Effektivität über Effizienz stehen. Das erfordert eine Kommunikationskultur, die man fördern muss.“

 

Der Kunde im Mittelpunkt, Arbeiten in kurzen Zyklen

„Zentral ist die Kundenzentriertheit und das Iterative im Prozess: schnell mal was zum Kunden geben – zum Beispiel ein Papiermuster, eine niedergeschriebene Story – und sich damit so schnell wie möglich und regelmäßig Feedback holen.“ Der direkte Kontakt der Entwickler zum Kunden als Startpunkt und Taktgeber regelmäßiger Feedbackschleifen macht für die meisten Ansprechpartner eine der herausragenden Neuerungen und den zentralen Erfolgsfaktor aus – sowohl bei kundenspezifischer als auch bei kundenanonymer Entwicklung. Diese Punkte nennen alle Ansprechpartner:

  • Zu Beginn des Entwicklungsprozesses im Rahmen von gemeinsam von Vertrieb und Entwicklung geleiteten Workshop-Formaten mit den Kunden die Anforderungen erfassen
  • Statt klassischer Lastenhefte, die ein Projektleiter allein verfasst, kollaborative Dokumente aller Beteiligten mit agilen Elementen wie Epics, Story Maps und User Stories
  • Früh Ideen mit dem Kunden teilen und gemeinsam im Team bewerten
  • Integrierte Systemtests statt Papiermeilensteine: Früh MVPs bauen und mit den Kunden testen
  • Dafür einen eigenen Bereich für den Prototypenbau einrichten, der unabhängig vom zentralen Einkauf agiert

Sowohl die Erfassung der Kundenwünsche zu Beginn als auch die Kundeneinbindung in der Vorentwicklung mit MVPs braucht laut Interviewpartnern nicht nur neue Methoden und Tools, sondern vor allem auch einen Kulturwandel: „Das ist zu Beginn die hohe Kunst der Produktentstehung: die hohe Kunst, die richtigen Fragen zu stellen und daraus die richtigen Requirements zu definieren. Selbst wenn es zu Beginn heißt ‚Das ist alles klar!‘, ist nie alles klar, es gibt immer Unklarheiten. Diesen Raum aufzuhalten und gegen ein vermeintlich schnelleres Vorgehen zu verteidigen, das ist eine der wichtigsten Funktionen des Projektleiters.“

 

Der Faktor Mensch

Gefragt nach dem wichtigsten Faktor für die erfolgreiche Erneuerung des Produktentwicklungsprozesses, sind sich alle Interviewpartner einig: Zentral für den Erfolg der Initiativen ist die produktive alltägliche Auseinandersetzung mit den Folgeproblemen, die sich aus der Spannung zwischen Bewährtem und Neuem ergeben. Ein Interviewpartner fasst es so zusammen: „Die größte Hürde war die Haltung bei vielen Kollegen ‚Es ist ja nur ein Prozess, den legen wir fest und gut‘. Der Prozess muss leben und hat viele in ihrem Rollen- und Selbstverständnis herausgefordert. Da wir früh wussten, dass wir hier mehrfach Neuland betreten, haben wir von Anfang an Experten für Team- und Organisationsentwicklung eng eingebunden.“

Damit das Neue nicht nur pro forma, auf einer mechanistischen Ebene umgesetzt wird, „braucht es viel Empowerment und Begleitung der Mitarbeiter“. Und das auf allen Ebenen: „Der übergeordneten Führungskraft kommt die Schlüsselrolle zu, sie ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, das haben wir zu Beginn nicht ausreichend beachtet.“ Ein anderer Ansprechpartner zieht eine ähnliche Bilanz: „Die Neuerungen und ihre Auswirkungen müssen im Top-Management und von allen Führungskräften verstanden sein. Denn die Konflikte, die daraus vor allem mit Blick auf die Ressourcenverteilung erwachsen, müssen konstruktiv ausgetragen und gemeinsam von allen Beteiligten gelöst werden.“ Und die Bearbeitung der Konflikte verlangt Zeit: „Die Teamleiter waren am schwierigsten zu überzeugen, die sind operativ zu tief drin, da bedurfte es viel Dialog.“

Neben der Bearbeitung dieser Spannungen, die oft von der Produktentwicklung in alle Bereiche der Organisation ausstrahlen, steht ein weiterer Aspekt des ‚Faktor Mensch‘ im Mittelpunkt: Die Haltung und das Maß an Selbstklärung der Mitarbeiter: „Ein Team mit guten, offenen Leuten, ein Team mit Commitment, das ist zentral für erfolgreiche Produktentwicklung.“ Oder wie es ein Ansprechpartner formuliert: „Ich habe noch nie erlebt, dass die Technik das Problem ist.“

 

Fazit

Was als Suche nach dem besten agilen Framework für Produktentwicklung in der fertigenden Industrie begann, wurde zunehmend zu einer Studie genereller Prozesse im Rahmen von Organisationsentwicklung sowie Fragen der Führungs- und Lernkultur.
Keine der Initiativen, die die Ansprechpartner selbst als „erfolgreich“ klassifiziert haben, beschränkte sich auf lokale Interventionen. Vielmehr entwickelten sich langfristige Projekte, die weit über den eigentlichen Produktentwicklungsprozess hinaus wirkten und wirken.

Alle Organisationen haben sich dabei an grundsätzlichen Fragen abgearbeitet: Wie wird Neues nachhaltig integriert? Wann überwiegt das Bedürfnis nach Stabilität die Innovationskraft? Welche Kompetenzen über das Fachliche hinaus braucht es in einem Umfeld großer Komplexität?

Wenn neue Organisationsformen die sich wandelnden Anforderungen im Bereich der Produktentwicklung abbilden sollen, geht es also weniger um Agilität an sich, als um die Gestaltung von wirksamem Wandel und nachhaltigen Lernprozessen, um die Existenz des Unternehmens zu sichern.

 

Dies ist ein Auszug unseres Vortrags „Die Produktentwicklung der Zukunft in der Intralogistik“, den wir auf der Jubiläumstagung des „Materialflusskongresses 2023“ an der Technischen Universität München in Garching gehalten haben. Den Artikel mit der vollständigen Beschreibung der Untersuchungsergebnisse können Sie hier herunterladen:

Hier die vollständigen Ergebnisse herunterladen.

 

Themen: Kollaboratives Arbeiten Digitale Transformation Organisationsentwicklung Agilität Faktor Mensch Agiles Arbeiten Produktentwicklung Transformation