Sven France von LYNQTECH im Gespräch über Führung zwischen Bundeswehr und freier Wirtschaft
Der ehemalige Bundeswehroffizier über den Übergang vom Militär in die Privatwirtschaft, was Unternehmen vom Militär lernen können, warum Bundeswehr-Prinzipien viel mit agilem Arbeiten gemeinsam haben und weshalb Führung in Unternehmen zu oft als Nebensache behandelt wird.
Zur Person
Sven France war 13 Jahre bei der Bundeswehr, zuletzt als Hauptmann bei der Infanterie des Heeres. Nach seinem Studium der Bildungs- und Erziehungswissenschaften an der Bundeswehr-Universität absolvierte er ab 2020 ein Studium in BWL und Wirtschaftspsychologie. Aktuell studiert er im Master Wirtschaftspsychologie mit Schwerpunkt digitale Transformation und digitale Psychologie. 2024 wechselte er nach 13 Jahren bei der Bundeswehr in die freie Wirtschaft und ist heute als Organisationsentwickler bei LYNQTECH tätig. Seine militärische Laufbahn war ab 2017/18 durchgehend von Führungsverantwortung geprägt.
Was hat dich zur Bundeswehr geführt? Und was war der Impuls, in die freie Wirtschaft zu wechseln?
SVEN FRANCE Während meiner Schulzeit in Berlin gab es sogenannte „Studientage“, wo Vertreter verschiedener Berufe ihre Organisation und ihre Aufgaben vorstellten. Darunter war auch ein General der Bundeswehr, der mich sehr beeindruckt hat: Er ist als einziger nicht auf Gehälter und materielle Vorteile eingegangen, sondern auf Aspekte wie Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, wie man als Team unter extremen Situationen zusammenwächst. Diese Idee „Man geht gemeinsam mit anderen auf ein Abenteuer" hat mich gereizt.
13 Jahre später, 2024, habe ich die Bundeswehr verlassen. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe viel Wertschätzung erfahren, Vorgesetzte haben wirklich um mich gekämpft. Aber die Rahmenbedingungen der Bundeswehr sind schwierig mit einer Familie zu vereinbaren. Das hat mich dazu gebracht, in die freie Wirtschaft zu wechseln.
„In der freien Wirtschaft wird Führung als Nebensache gesehen. Das erschwert vieles“
Wie erlebst du das Führungsverständnis in der freien Wirtschaft?
SVEN FRANCE Mein Eindruck ist: In der freien Wirtschaft wird sehr auf Fachlichkeit geachtet, und Führung wird als Nebensache gesehen. Das erschwert vieles, sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene.
Denn häufig wird außer Acht gelassen: Passen die Soft Skills, möchte die Person führen, und wie geeignet ist sie?
Die Fachlichkeit kann bei der Führungstätigkeit sogar behindern. Wenn jemand jahrelang Programmierer war und dann eine Führungsrolle übernimmt, versucht er sich immer wieder in die Fachlichkeit reinzumanövrieren, weil ihm das Sicherheit gibt. Dann ist er aber schon so weit weg davon, dass sein Wissen nicht mehr aktuell ist; er verliert das große Ganze aus den Augen und behindert seine fachlichen Mitarbeitenden.
„Als Offizier wird man von Anfang an dahin getrimmt, die Fäden zusammenzubringen“
Bei der Bundeswehr sind Fach- und Führungslaufbahn von Beginn an getrennt. In der Führungslaufbahn wird man als Offizier von Anfang an dahin getrimmt, die Fäden zusammenzubringen. Man muss nicht der beste Schütze sein oder am meisten über Fahrzeuge wissen – für die Fachlichkeit hat man die Feldwebel, die als „Meister ihres Faches" bezeichnet werden. Als Offizier bringt das große Ganze zusammen, und das akzeptieren sowohl Untergebene als auch Vorgesetzte. Man wird von Anfang an dahin gebracht, dass man eine Führungskraft ist, und das ist der Kernauftrag.
Du warst beim Heer, bei der Infanterie. Welche Prinzipien aus dieser Zeit prägen deine heutige Arbeitsweise besonders stark?
SVEN FRANCE Das Prinzip der „Auftragstaktik“, ein Alleinstellungsmerkmal der Bundeswehr innerhalb der NATO: Wenn andere NATO-Streitkräfte Befehle geben, geben sie jeden Schritt genau vor. Wenn jemand sich die Schuhe zubinden soll, wird gesagt: „Jetzt beugst du dich runter, du ergreifst den rechten Schnürsenkel, den linken Schnürsenkel, du überkreuzt sie" und so weiter. Bei der Bundeswehr gibt man nur den Auftrag vor: „Schuhe zubinden." Wie man zum Ziel kommt, ist eigenbestimmbar.
Das bringt einen dazu, immer mindestens eine Ebene höher zu denken, meistens sogar zwei Ebenen, so dass man das große Ganze im Blick behält und sich nicht in Details verliert.
Lässt sich das Prinzip der Auftragstaktik mit agilem Arbeiten vergleichen?
SVEN FRANCE Was in der freien Wirtschaft manchmal schwerfällt, ist die Entscheidung dahin zu bringen, wo sie gebraucht wird. Viele denken hierarchisch: Von oben nach unten wird entschieden, von unten nach oben eingefordert – klassisch Wasserfall.
„Die ‚Auftragstaktik‘ bringt einen dazu, immer mindestens eine Ebene höher zu denken“
Bei der Auftragstaktik lernt man: Die Entscheidung muss da gefällt werden, wo sie gebraucht wird. Wenn ich in einer Gefechtssituation bin und beschossen werde, habe ich keine Zeit, die Entscheidung von der übergeordneten Führung einzuholen. Ich muss selbst entscheiden, und das wird auch von mir verlangt. Deswegen wird nur der Auftrag vorgegeben. Wie man dahin kommt, die kleinen Entscheidungen auf dem Weg, die trifft man selbst.
Das hat Parallelen zum agilen Arbeiten. Das Team trägt die Verantwortung. Aber vielen Firmen fällt agiles Arbeiten schwer, weil es an bestehenden Führungsverständnissen rüttelt. Die Führungskraft könnte sich fragen: Wenn ich die Entscheidung nicht mehr treffe, wofür braucht man mich noch?
„Die Entscheidung muss da gefällt werden, wo sie gebraucht wird“
Was ist dann die Aufgabe der Führung?
SVEN FRANCE Es gibt ein Big Picture, das zusammengehalten werden muss. Deswegen braucht man den Offizier, der den Überblick hat. Bei der Bundeswehr gibt es das Leitmotiv „Es gibt nur einen Schwerpunkt". Wenn man einen Angriff plant, hat man einen Geländeabschnitt herausgepickt, wo sich ein Angriff lohnt. Dann bringt man alle nötigen Kräfte dahin, unabhängig von ihrer Verortung in der Organisation – man rüttelt an der Aufbauorganisation. Das muss jemand koordinieren, der das gesamte Bild im Blick hat.
Was können Organisationen in der freien Wirtschaft vom Umgang mit Extremsituationen lernen??
SVEN FRANCE Ich habe einige Lehrgänge und Übungen durchlaufen, die mich an meine Grenzen gebracht haben, zum Beispiel durch körperliche Belastung, Schlaf- oder Nahrungsmangel. Wenn man solche Sachen durchgestanden hat, relativiert sich vieles. Ein banales Beispiel: Wenn es anfängt zu regnen, denke ich mir: „Ich habe stärkeren Regen erlebt."
Das schafft Resilienz und Widerstandsfähigkeit, und das ist eine Sache, die man in Transformation benötigt. Es kann immer zu Situationen kommen, in denen Dinge passieren, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Gerade in der heutigen Zeit, wo Technologien sich exponentiell weiterentwickeln, kann man nicht mehr alle Zukunftsszenarien vorhersehen.
Militärische Prozesse gelten als hoch standardisiert. Inwiefern ist das für agile Organisationen ein Vorbild oder eher kontraproduktiv?
SVEN FRANCE Der Alltag ist bei der Bundeswehr sehr strukturiert und hierarchisch aufgebaut. Aber das gilt für den Innendienst, wo Prozesse eingehalten werden müssen, weil es eine Riesenorganisation ist. Wenn man davon weggeht, zum Beispiel in eine Gefechtssituation, kommt es sehr nah an agiles Arbeiten ran.
„Wenn man genau weiß, welche Stärken und Schwächen man selbst und die anderen haben, dann schafft das enormes Vertrauen“
Ich habe beispielsweise meine Mannschaftssoldaten, die nicht für Führung eingestellt wurden, immer ermutigt, auf meiner Ebene zu denken. Der Grund: Man muss – so hart es klingt – immer mit Verlusten rechnen. Das ist keine Floskel, das ist einfach so. Wenn der Gruppenführer fällt, muss irgendjemand das Funkgerät ergreifen und dafür sorgen, dass es weitergeht. Das ist die größte Stärke der Auftragstaktik: dass irgendjemand das Funkgerät ergreift, sich berufen fühlt und die Verantwortung übernimmt.
Das ist ein Prinzip, das sehr nah am Scrum-Framework ist, wo das Team die Verantwortung trägt – militärisch die Gruppe, zivil das Team.
Was schafft in diesem Kontext Vertrauen im Team?
SVEN FRANCE Übergeordnet ist es das gemeinsame Ziel. Aber auch die genaue Kenntnis der Fähigkeiten des anderen. Man weiß irgendwann genau, wer welche Stärken und Schwächen hat, wenn man 24 Stunden miteinander verbringt. Auf Übungen oder im Auslandseinsatz ist man 24/7 zusammen. Diese Nähe schafft Vertrauen. Durch dieses Vertrauen fällt auch die Hürde, konstruktive Kritik von unten nach oben zu äußern. Das ist eine Sache, die man vielleicht nicht beim Militär vermuten würde.
Das kann man auch in die freie Wirtschaft übertragen – durch Gespräche, durch Wissensplattformen, Formate über das eigentliche Arbeiten hinaus, sich auszutauschen.
Wie blickst du auf Transformation – als strategischen Prozess, kulturellen Wandel oder Führungsaufgabe?
SVEN FRANCE Sowohl als auch. Transformation kann nicht auf einer Ebene passieren. Ich kann nicht einfach sagen: „Ab morgen nutzen alle Microsoft 365." Dann werden sich viele denken: „Warum? Es hat bisher super geklappt." Es funktioniert nicht, wenn ich nur auf Prozessebene bleibe und befehle: Die neuen Prozesse werden jetzt eingehalten. Es ist ein Zusammenspiel aller Ebenen. Wenn man eine vernachlässigt, wird die Transformation nicht gelingen.
Du betonst das „Warum". Ist das ein zentraler Punkt?
SVEN FRANCE Wenn man möchte, dass die Mitarbeitenden die bisherigen Prozesse hinterfragen und ändern, dann muss man ihnen nahebringen, warum man selbst das anders macht. Nur dann löst man diesen Denkprozess aus. Ich kann Menschen nicht befehlen, etwas nachhaltig zu tun – nicht nur vordergründig, sondern wirklich nachhaltig – wenn sie nicht die eigenen Prozesse hinterfragt haben. Also muss ich diesen Denkprozess auslösen.
„„Man kann die Entscheidung zu denen bringen, die die Expertise haben, und das ist kein Zeichen von Schwäche. Sondern gute Führung“
Was würdest du Führungskräften in zivilen Organisationen mitgeben?
SVEN FRANCE Es ist nicht schlimm, wenn man nicht auf jede Frage die Antwort hat. Man kann die Menschen fragen, die die Antwort haben – seien es Untergebene, Vorgesetzte oder auf Kollegen auf gleicher Ebene. Man kann die Entscheidung zu denen bringen, die die Expertise haben, und das ist kein Zeichen von Schwäche. Sondern gute Führung.
In der heutigen Welt ist es unmöglich, fachlich überall up-to-date zu sein in einer Tiefe, die wertschöpfend ist. Was als Führungskraft mehr gefragt ist: das Beste aus Menschen herauszuholen. Nicht wirtschaftlich auspressend, sondern so wie mich damals dieser General ermutigt hat, das Beste aus mir zu machen.
Was beschäftigt dich besonders beim Thema Führung?
SVEN FRANCE Warum wird Führung nur als Beiwerk gesehen? Warum denken viele, dass man das nebenbei machen kann? Egal welches Projekt-Modell ich mir anschaue – wenn ich mit Menschen arbeite, ist es mindestens komplex und Führung arbeitet immer mit Menschen. Derzeit noch nur mit Menschen, wahrscheinlich in ein paar Jahren mit Menschen und KI und dann irgendwann mit Menschen und Robotik. Da kann Führung kein Beiwerk sein. Die Erkenntnis gibt es in der Literatur schon seit Ewigkeiten, aber man handelt nicht danach. Ich frage mich, was wir brauchen, um das zu ändern.